Über den Stress.

Die Wortbrandung des Anrufers mündet in einer Frage: „Versteh´n Sie, ich brauch´n Stressmanagement. Coachen Sie sowas, wie lang dauert´s, was kostet´s und geben Sie ´ne Erfolgsgarantie?“ Die ganze Hektik steckt einen selber an, wenn man nicht aufpasst.
„So wie Sie sich anhören, geb´ ich Ihnen jedenfalls die Garantie, dass Sie bald auf der Schnauze liegen.“ – Manchmal hilft halt nur rohe Gewalt, um gegen solch einen Redeschwall anzukommen.
„Wie? Was? Wie meinen Sie?“
„Erschöpfungsdepression oder psychophysischer Kollaps, würde mich jedenfalls nicht wundern.“
Als Antwort eine erneute Wortexplosion, die mir auf vorwiegend technische Art erklärt, es handle sich letztlich bloß um eine Frage des „Handlings“.
„Zeitmanagement, verstehen Sie? Prio-Management…“ und dazu noch ein paar Amerikanismen aus dem letzten Managerseminar. Man ist ja up to date. Und selbstoptimiert, dass es raucht. Nur die Herzkranzgefäße nicht. – – – „Und das, obwohl er doch sooo viel Sport gemacht hat!“ – R.I.P.

Ich bin grundsätzlich der Meinung: Wer heilt bzw. hilft, hat Recht. Das Ergebnis legitimiert insoweit die Methode. Drum ist überhaupt nichts einzuwenden gegen Stressmanagement, es kann einem die Arbeits- und Lebenssituation erheblich erleichtern. Allerdings, wer sich alleine mal auf Wikipedia die Vielzahl möglicher Stressoren zu Gemüte führt, dem wird sich die Frage aufdrängen, in welchem Ausmaß dem Problem rein mit Methodik beizukommen ist. Denn was steckt dahinter, dass eine/r aus dem Stress überhaupt nicht mehr rauskommt?

„Viele Beschwerden, mit denen Patienten zu uns kommen, sind Reaktionen auf Defekte ihrer Beziehungshaut durch ‚zerrissene‘ oder ‚verknotete‘ Beziehungen zu ihrer Mit-Welt.“, schreiben Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack in Uexkülls brillantem 1300-Seiten-Klassiker „Psychosomatische Medizin“. Und sie ergänzen: „Therapie heißt Antworten geben, die dem Patienten zeigen, dass die Zeichen, die er auf einer körperlichen, psychischen oder sozialen Ebene sendet, verstanden werden und ihn in die Lage versetzen, seine Wirklichkeit in zunehmendem Maße salutogenetisch zu gestalten.“

Anders gesagt: Das „Stressproblem“ des Klienten ist meist nicht das wirkliche Problem, sondern die Sichtbarwerdung eines tieferliegenden Konflikts, mittels derer der Klient um Hilfe ruft. Man spricht von „Appellcharakteristik“. Das wird allerdings nur allzu oft übersehen oder – schlimmer noch – bewusst ignoriert. Wer stellt schon gern sein Selbst- und Weltbild in Frage, das bisher doch so wunderbar „funktioniert“ hat? Und wer hat den Mut, auf die Notsignale eines Gegenübers einzugehen, die sich allzu oft hinter Schneidigkeit und „Dynamik“ verstecken? Noch dazu, wo „Gestresste“ in ihrer Ausstrahlung eine Rückwirkung auf die gesamte Umgebung ausüben und sie am Ende selber mit hineinziehen in den Stress. – Gerade hier aber gilt der alte Lehrsatz: Wenn es ansteckend wirkt, ist es pathologisch. Cave!

Um nochmals Uexküll/Wesiack zu zitieren: „In biologischen Systemen und Regelkreisen aktiviert Stress zunächst die klassischen Stress-Achsen: Die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA) mit Ausschüttungen von Kortisol sowie die sympathische Achse (SA) mit Ausschüttung von Noradrenalin und Adrenalin. Nach jüngeren Erkenntnissen kommt eine dritte Stressachse hinzu mit Ausschüttung von Neuropeptiden (z.B. Substanz P) und Entzündungsmediatoren wie den Zytokinen… Im Verlauf der akuten Stressantwort verändert sich eine Vielzahl von Variablen verschiedener körperlicher Systeme wie: Herz-Kreislauf-Leistung, Tonus der glatten Muskulatur, Sekretion von Schweiß und Verdauungssäften, Aktivierung des Energiestoffwechsels, Immunbalance, Aktivierung von Vigilanz und Bewusstsein wie auch der Tonus des Halte-, Stütz- und Bewegungsapparates…“ Einfacher formuliert: Der Mensch geht zurück auf seine tierische Stufe, die da lautet: Fressfeind oder Beute. Und hier zeigt sich auch die gesunde Seite des sogenannten „Eustress“: Kurzes Hochfahren, Stresslösung (durch Flucht oder Beutemachen), Rekreation und Hochgefühl. Anders beim sogenannten „Distress“: Hochfahren des Systems als Dauerzustand führt nicht zu Rekreation und Wohlgefühl, sondern zu Erschöpfung und Burn-Out, wenn nicht gar zum psychophysischen Totalkollaps.

Nicht, dass ich selber gegen alle Versuchungen gefeit wäre, das Leben erwischt einen manchmal ja auch kalt. Aber in den fünfzehn Jahren meiner Coachingpraxis habe ich ausnahmslos die Erfahrung gemacht: Die Unfähigkeit mit Stress „umzugehen“ ist die Widerspiegelung eines inneren Zustandes und insbesondere seiner Einschränkungen. Hier geht es um erlernte (Fehl-)Haltungen, die die Stressanfälligkeit erst schaffen. Also etwa die Bereitschaft, selber zurückzustehen und/oder den Anderen den Zutritt zu sich selber zu gestatten, was regelmäßig in der Verletzung der sogenannten „Ich-Grenzen“ endet. Damit wird die Frage virulent: Wie hoch schätze ich mich selbst und mein eigenes Wohlergehen ein gegenüber externen Anforderungen? Denn, wenn ich meiner Selbstvergeudung Grenzen setzen will, geht es nicht, ohne dass ich den Vampiren den Zutritt blockiere. Und genau an dieser Stelle setzt ein unbewusstes (!) Reflexverhalten ein, in dem der/die Betroffene sich vor der externen Inanspruchnahme beugt, „weil es eben immer schon so war.“

Viele Betroffene meinen, Sie hätten nun nach einem bestimmten haltungsformenden Ereignis zu suchen (und setzen sich damit bereits wieder unter Leistungsstress). Fakt allerdings ist, dass fast immer die Aufzuchtsbedingungen des frühen seelischen Biotops eine solche Prägung veranlasst haben. Ich will es an einem Beispiel verdeutlichen.

Eine Klientin, die sich buchstäblich selbst verbrennt – im Job und auch im Privatleben, denn auch dort „leistet“ sie anstatt zu rekreieren – sucht meine Hilfe. Die Mittvierzigerin ist in einer Verfassung, bei der man mit einem baldigen Kollaps rechnen kann, so dass ich sie erst einmal zum Arzt schicke. Der verschreibt ihr Tranquilizer, nun ja… In mehreren Sitzungen arbeiten wir daran, die Hintergründe ihrer Selbstschädigung aufzudecken. Sie scheint die Sitzungen zu genießen: die freundliche Atmosphäre, den Kaffee, das frische Kaffeegebäck aus der Bäckerei nebenan, das gelegentliche gemeinsame Lachen und das Gefühl angenommen zu sein. – Auch wenn sie sich um Selbstbeherrschung bemüht, reagiert sie doch emotional heftig auf die Erfahrung: Ich kann von mir erzählen und werde nicht abgelehnt, sondern akzeptiert. Ihre Mimik verrät immer wieder, dass ihr da etwas hochsteigt, auch wenn sie versucht, das kleinzureden. Auf meine Frage, welche Bewandtnis es damit habe, schüttelt sie den Kopf: „Man muss nicht alles psychologisieren.“

Dann, während einer der Sitzungen, fällt ihr Blick auf meine beiden Elektrogitarren und den Marshall neben der Couch: „Darf ich die mal anfassen?“ Ich nicke, und sie hebt die rote Gibson SG hoch mit einer auffallenden Zärtlichkeit. „Darf ich Sie was fragen? … Würden Sie die mal für mich anschalten?“
Nu wird´s aber, denke ich mir verdattert. Rock-Coaching, man glaubt´s ja selber nicht. Nach kurzem Überlegen werfe ich den Marshall an und blase ein paar Licks durch die Gegend. Dann schalte ich ab, bevor das alte Blues-Schwein endgültig durchbricht und die Sitzung zum Teufel geht. Ich blicke auf eine glücklich leuchtende Klientin, wenngleich ich immer noch nicht verstehe, was passiert ist.

„Gitarre hätte ich sooo gerne gelernt!“
„Aber?“
„Ich durfte nicht. Meine Eltern wollten, dass ich Klavier lerne.“ Sie zögert. „Ich war ziemlich gut darin, bin ein paar Mal sogar damit aufgetreten. – – Sie waren sehr stolz auf mich.“
„Und Sie selbst?“
Lange Pause. „Ich habe es gehasst.“

Was als banale Begebenheit erscheint, gewinnt in den folgenden Sitzungen immer mehr Dimensionen: Einem musischen Kind wird ein primärer Wunsch verwehrt, mit rationalisierenden Begründungen, die nur spärlich verdecken können, dass die Eltern ihre eigenen Wünsche und Voreingenommenheiten an Stelle der Wünsche ihres Kindes setzen. Das Kind fügt sich und lernt nicht nur Klavier, sondern es beugt sich sogar dem gesellschaftlichen Ehrgeiz der Eltern und erbringt Jahre lang: Hochleistung. Einschließlich mehrerer beklatschter Auftritte bei örtlichen Konzerten.
„Jedes Mal, wenn hinterher der Applaus kam, hatte ich als Zehnjährige das Gefühl, dass er gar nicht mir galt, sondern meinen Eltern. Weil die mich dazu gezwungen haben und sich jetzt von den ganzen Knallköpfen feiern ließen.“

Internalisiert wurde nicht nur der Lehrsatz: „Die Wünsche der Anderen sind wichtiger als meine, wenn ich mir ihre Zuwendung erhalten will.“ Sondern auch: „Ich bekomme besonders viel Zuwendung, wenn ich mich besonders anstrenge.“ Die Klientin ist sehr bewegt, als sie beginnt zu erfassen, welche Auswirkungen diese kindlichen Überlebenssätze auf ihre heutige Situation haben.
„Haben Sie Ihre Eltern sehr geliebt?“, frage ich vorsichtig.
„Das tu ich immer noch!“, antwortet sie leise. „Obwohl….“ Sie verstummt und ringt mit sich.
„Obwohl..?“
„Obwohl ich nie das Gefühl habe, dass sie mich wirklich sehen. – – – Ich bin immer nur die tolle, erfolgreiche Tochter, die SIE sich gewünscht haben.“ Sie legt die gefalteten Hände vors Gesicht und schweigt lange. „Irgendwie war´s  eigentlich ´ne unerfüllte Liebe.“, sagt sie schließlich leise. „Ich hab nie das bekommen, was ich selber brauch´. Ich war nur immer der Anlass, dass SIE stolz sein konnten.“

„Ich liebe meine Eltern so sehr, dass ich sie keinesfalls enttäuschen will.“, sage ich. „Denn sonst verliere ich auch noch diese Art von Zuneigung und habe gar keine mehr.“ Auch ein Coach hat ein Herz im Leib. Manchmal würde ich gerne Arschtritte verteilen. – Es wird zu oft vergessen: Der Hunger eines Kindes nach Liebe und Anerkennung ist nicht nur Luxusgut, sondern phylogenetisch verankerte Überlebensstrategie, um ihm die Aufzucht zu sichern. Ein Kind, das seelisch abgekoppelt ist, stirbt auch heute noch. – Zwar meist nicht mehr körperlich, aber immer noch seelisch.

Die Klientin jedenfalls organisiert sich vollständig neu. Sie führt eine Serie langer Gespräche mit ihren Eltern, die nach anfänglichem Blockieren beginnen, die Not ihrer Tochter zu verstehen. Die Aussöhnung vollzieht sich hochemotional. Danach sucht sie sich einen neuen Job.
Ich warte noch eine ganze Zeit lang auf die Nachricht, dass sie sich zum Gitarrenunterricht angemeldet hat. Kommt aber nix.

2 Gedanken zu “Über den Stress.

  1. Wow! Der Artikel ist sehr interessant!! Vor Allem aus den Teilen über Stress und auch aus dem Beispiel mit der Klavierspielerin habe ich eine Menge mitnehmen können!
    Vielen Dank dafür!

    Mit freundlichen Grüßen
    Tim Mainz

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